Michael Breitkopf, Sozialberatung Friedrichshain
Die Verdammten dieser Stadt – KdU in Berlin

Die wohnungspolitische Lage der H4-Haushalte, Ansatzpunkt mietenpolitischer Kämpfe

Auf dem Berliner Wohnungsmarkt werden momentan nur diejenigen glücklich, denen der Preis egal ist oder die an Wohneigentum verdienen wollen. Für BerlinerInnen, die zu HartzIV verdammt sind (H4-Haushalte) ist die Lage trostlos, wie ich aus langjähriger Beratungstätigkeit sagen kann. Die soziale Lage der HartzIVer, vor allem wenn sie diesem System repressiver Observanz länger ausgesetzt sind, insbesondere alleinerziehende und lebensältere Menschen, wird durch die Mietensituation der Stadt verschärft. Der Belastungsfaktor Nr. 1 ist eindeutig und mit Abstand die Wohnung, im Verwaltungsdeutsch treffend als „Unterkunft“ bezeichnet, oft mit schlechtestem Erhaltungszustand, hohen Nebenkosten - und trotzdem steigen die Preise.
Trotz einer kostenbedingten Umzugswelle 2008 bis 2012 müssen heute ca. 100.000 H4-Haushalte in Berlin den öffentlich nicht gedeckten Teil der Miete anderweitig aufbringen: Sei es von den gewährten Lebenshaltungskosten (sog. Regelsatz), durch Minijobs, oder durch undokumentierte Arbeit. Denn zu den aus der Sicht des Berliner Senates „angemessenen“ Kosten sind in Berlin kaum Wohnungen für Umzüge verfügbar. Marginalisiert, vereinzelt, traumatisiert, hungrig, der Gängelung der sogenannten Leistungsträger-Verwaltungen ausgesetzt - da bleibt kaum noch Kraft zur Gegenwehr, höchstens zu gelegentlichem Aufbegehren. Da traut mensch sich nicht mehr unter andere Menschen, schottet sich selbst ab. Inwieweit nützt diese Entwicklung den Verantwortlichen?

Die etablierte mietenpolitische Debatte schwadroniert von Neubau und energetischer Sanierung. Die mietenpolitische Bewegung redet von „Gentrifizierung“. Von H4ern redet niemand. Völlig unbeachtet bleibt, daß gerade die Wohnungssituation einkommensschwacher Haushalte strategische Ansatzpunkte bietet, der allgemeinen Preisentwicklung auf dem Berliner Wohnungsmarkt entgegenzuwirken. Mit der Durchsetzung von HartzIV gelang der Bundesregierung 2005 die Etablierung eines breiten Niedriglohnsektors und eine Senkung der Reallöhne. Heute wird mit den „Kosten der Unterkunft“ über die Lebensbedingungen der ärmeren Hälfte Berlins entschieden.

I. Die Marktlage

Etwa 25% der Berliner Miethaushalte gelten als „einkommensschwach“. Ende 2012 waren es 417.000. Davon wurden 320.000 von den Jobcentern verwaltet (SGB II) und 24.000 über die bezirklichen Sozialämter (SGB XII außerhalb von Einrichtungen). Für beide Gruppen werden die „Kosten der Unterkunft“ (KdU) in Berlin in der sog. Wohnungsaufwendungsverordnung (WAV) und der zugehörigen Ausführungsvorschrift Wohnen (AV Wohnen) durch den Sozialsenat identisch geregelt. Hinzu kommen noch 35.000 Haushalte mit Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sowie 38.000 Haushalte, die Wohngeld erhalten. Für die Mietsubvention all dieser Haushalte werden in Berlin pro Jahr ca. 1,6 – 1,8 Mrd. € aufgewandt. Genaueres ist schwer zu erfahren, offenbar soll verdeckt werden:
  1. wie sich die Mietaufwendungen der sog. Transferleistungs- Haushalte in Berlin real entwickeln, bzw. in Berlin verteilt sind;
  2. daß die Mietsubvention hinter der Marktentwicklung seit 2009 zurückbleibt, Mieten zunehmend nicht mehr durch die Subvention gedeckt sind und dies zur Verdrängung hauptsächlich aus dem Innenstadtring führt;
  3. daß der Senat die seit 2011 die unter diesem Titel gestiegenen Bundessubventionen anderweitig verausgabt (KdU SGB II +180 Mio. €, SGB XII/4. Kap. 400 Mio. €).

Der Senat verwendet in den letzten Jahren die stufenweise angestiegene Bundesbeteiligung in Höhe von ca. 400 Mio. € nicht für Wohnungszwecke von Transferleistungs-Haushalten. Das ist legal, aber nicht legitim. Wir fordern deshalb eine jährliche, solide und öffentliche Berichterstattung zur Wohnungsmarktlage einkommensschwacher Haushalte.

II. Die Perspektive

Im gesamten Innenstadtbereich wird der Verdrängungsdruck auf die einkommensschwachen Haushalte zunehmen, angesichts der aktuellen Marktdynamik besonders im nördlichen Neukölln bis Kreuzberg. Neben der konventionellen Mietenprogression entlang des Mietspiegels wirken sich in der Innenstadt insbesondere Investitionen in denkmalgeschützte Immobilien aus. In diesen – bislang aus Kostengründen vernachlässigten - Beständen wohnen häufig einkommensschwache Haushalte.

Bislang ist der Bezug von Grundsicherung im Alter nach SGB XII hauptsächlich ein Phänomen ehemaliger Westbezirke. Hintergrund ist, daß insbesondere weibliche Erwerbstätige der ehemaligen DDR weitgehend kontinuierliche Erwerbsbiografien aufweisen. Zunehmend aber wirkt sich die Langzeitarbeitslosigkeit im Osten ab 1990 aus. Ganze Gruppen wechseln vom SGB II ins SGB XII. Erschwerend kommt hinzu, daß der durchschnittliche Kostenaufwand für seniorengerechtes Wohnen höher ist, als im SGB II (behindertengerecht, barrierefrei). In diesem Bereich gibt es nicht mal im Ansatz eine staatliche Planung. Trotz diverser obergerichtlicher Entscheidungen werden in Berlin die sog. besonderen Bedarfe nach § 35a SGB XII im KdU-Bereich vollständig ignoriert.

Ende 2009 verteilten sich „überziehende“ KdU-Haushalte etwa gleichmäßig über das Stadtgebiet. Heute gibt es in den Außenbezirken kaum noch Leerstände (ca. 2,5 %), und es ist unbekannt, wie viele Wohnungen unterhalb der KdU-Angemessenheitsgrenzen neuvermietet werden. Für Haushalte, die ihre Wohnung wegen des Einkommens aufgeben müssen, wird absehbar nicht nur in der Innenstadt, sondern auch in den Außenbezirken kein bezahlbarer Wohnraum verfügbar sein. Da das Angebots-Mietniveau im Berliner Umland in etwa dem der Außenbezirke vergleichbar ist, werden diese Haushalte in die äußeren Regionen Brandenburgs verdrängt.

III. Kostensenkungsverfahren: Die Jobcenter machen die Drecksarbeit

Wenn die Wohnkosten die „Angemessenheitsgrenze“ übersteigen, tritt das Jobcenter auf den Plan. Dem betroffenen Haushalt werden 6 Monate Zeit gegeben, die Kosten zu senken: Durch Verhandlungen mit dem Vermieter (?!!); durch Aufnahme eines zahlenden Untermieters; durch Umzug in eine preisgünstigere WE, oder indem der die Angemessenheitsgrenze übersteigende Betrag aus eigener Tasche bezahlt wird. In den meisten Fällen frieren die JC die KdU nach 6 Monaten exakt auf der Höhe der Angemessenheitsgrenzen ein.

Zahlen gibt es hier nur für die Haushalte, die ALG II beziehen, und auch erst ab 2010. Insgesamt erhielten (Stand September 2011) 99.148 Haushalte (somit 31 % aller SGB II-Haushalte) KdU oberhalb der KdU-Grenzen. Die JC haben 2010 insgesamt 71.187 „Aufforderungen zur Kostensenkung“ ausgesprochen, 2011 waren es 65.511 Aufforderungen. Nicht verlangt wurde eine Kostensenkung 2010 von 11.400 Haushalten, 2011 von 21.923 Haushalten.

2010 wurden 25.123 Haushalte als „Härtefälle“ anerkannt, 2011 waren es 36.335 Haushalte. Die dann folgende Anhebung der Angemessenheitsgrenze um 10 % ist keineswegs ausreichend. Auch viele Härtefall-Haushalte zahlen noch aus eigener Tasche drauf.

Durch Kostensenkungsverfahren bedingte Umzüge zählte die Verwaltung 2010 nur bei 1.195 und 2011 bei 1.313 Haushalten. Sowohl der rot-rote, wie der heutige rotschwarze Senat rühmen die geringe Zahl von Zwangsumzügen. Also alles kein Problem? Nein, es läuft nur anders: Wenn die JC das Geschirr erst mal zertöppert haben (keine volle KdU-Übernahme), kommt der Haushalt irgendwann in finanzielle Probleme: Mietschulden. Die Gerichte ermöglichen die Zwangsräumung. Bei zwei ausstehenden Monatsmieten kann der Vermieter fristlos kündigen. Falls der Mieter nicht auszieht, wird eine Räumungsklage beim Amtsgericht (AG) angestrengt. Dieses unterrichtet zwar das zuständige Sozialamt und/oder JC (§ 22 Abs. 9 SGB II sowie § 36 Abs. 2 SGB XII), allerdings ohne Folgen. Falls der Mieter nicht schon bis dahin geflüchtet ist, wird er nun per Gerichtsvollzieher zwangsgeräumt.

2009 soll es in Berlin 9.072 und 2010 genau 9.934 Räumungsklagen gegeben haben. Die Gerichtsvollzieher versandten 2009 5.021 Räumungsmitteilungen, 2010 waren es 5.603. Nicht erfaßt wird, wenn Haushalte bereits nach fristloser Kündigung durch den Vermieter ohne die Räumungsklage abzuwarten ausziehen. Allein in Friedrichshain sind nach unserer Schätzung seit 2009 auf diese Weise ca. 2.500 Haushalte ‚entsorgt’ worden.

Nach Ansicht des Berliner Sozialsenators Czaja, gibt es mit der neuen WAV (Mai 2012) kein Verdrängungspotenzial. Im Auftrag des Berliner Mietervereins hat das Institut TOPOS Stadtforschung im Mai 2012 eine Untersuchung zur WAV vorgelegt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass auch die neuen, minimal angehobenen WAV-Werte von mindestens 70.000 Haushalten überschritten werden, und eine reale Verfügbarkeit von im Sinne der WAV ‚angemessenem’ Wohnraum zudem „faktisch ausgeschlossen“ ist.

IV. Kritik der WAV

  1. Die Angemessenheitsgrenzen der WAV sind zu niedrig. Der Berliner Mieterverein schlägt deutlich höhere Werte vor, wobei ein Mietpreis nettokalt von 6,- €/qm für 1-2-Personenhaushalte und von 5,21 €/qm für Mehrpersonenhaushalte zugrunde gelegt wird.
  2. Ein Mietspiegel ist, entgegen der Rechtsprechung des BSG, keine geeignete Grundlage, um die Kosten der Unterkunft sachgerecht zu bestimmen. Denn der Mietspiegel bildet keine Angebotsmieten ab, sagt nichts aus über die reale Verfügbarkeit von Wohnraum und berücksichtigt die unterschiedlichen Teil-Wohnungsmärkte nicht.
  3. Keine Berücksichtigung von „Personen mit besonderen Bedarfen“ nach § 35a SGB XII (z.B. behindertengerechter Wohnraum), wie kürzlich das LSG Berlin-Brandenburg und das Bundessozialgericht festgestellt hat. Für das SGB XII ist die WAV schon außer Kraft.
  4. Die Einführung von sog. Quadratmeter-Höchstmieten ist in Berlin problematisch. Aufgrund der Marktsituation müssen H4er oft in winzigen Wohnungen leben, die trotzdem überteuert sind, wenn man den Mietpreis auf den Quadratmeter umrechnet. Das ist nach WAV unzulässig, auch wenn die Angemessenheitsgrenze an sich nicht überschritten wird.

V. Was tun?

Bisher wurden die rechtlichen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Dem Bundessozialgericht (BSG) wurde noch nie vorgetragen, wie die Wohnungsmarktsituation in Berlin konkret aussieht. Leider hat sich auf diesem Hintergrund eine verfestigte BSG-Rechtsprechung herausgebildet. So wird das gesamte Stadtgebiet als Bezugsbasis angesehen, weil es ja verkehrsmäßig so gut vernetzt ist, dass ein Umzug nach Spandau oder Marzahn nicht unzumutbar wäre. Eine Betrachtung von Teilwohnungsmärkten sei nicht erforderlich, obwohl der Gesetzgeber dies ausdrücklich zulässt. Zudem wird der Bezug auf den Mietspiegel anerkannt.

Will man die WAV vom Kopf auf die Füße stellen, ist man gezwungen, diese BSG-Rechtsprechung durch entsprechenden Sachvortrag zu erschüttern. Möglich wäre eine Normenkontrollklage nach § 55a SGG. Diese Möglichkeit gibt es seit April 2011. Die WAV ist die erste Satzung, die auf diese Weise überhaupt angreifbar ist. Das Ganze ist juristisches Neuland. Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Klage weniger sozialrechtlich, als mietenpolitisch geführt werden muss. Um hier Erfolg zu haben, bedarf es entsprechender Anwaltsteams, Gutachten und öffentlicher Unterstützung des Verfahrens.