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„Berliner Verhältnisse“

10.000 Euro Miete für eine 50 qm grosse Sozialwohnung

In München, Hamburg oder Frankfurt mag man es für einen Aprilscherz halten - in Berlin ist es die Realität: Der Vermieter einer im Fanny-Hensel-Kiez gelegenen Sozialwohnung erhöht die Kaltmiete auf das 2½-Fache des Bisherigen – und zwar rückwirkend für 27 Monate. Will der Mieter weiter wohnen bleiben, soll er im April das 22-Fache einer Monatsmiete bezahlen. Das sind für die 50,46 qm große Sozialwohnung 9.960,66 €.
Das extreme Beispiel im Fanny-Hensel-Kiez am Anhalter Bahnhof zeigt, welcher Willkür die Mieterinnen und Mieter im Sozialen Wohnungsbau Berlins mittlerweile ausgesetzt sind. Doch wie kommt es überhaupt hierzu?

Wegfall der Anschlussförderung - Die Problemverlagerung auf die Mieterinnen und Mieter.

Im Jahr 2003 beschloss der Berliner Senat, aus der Anschlussförderung, einer auf Dauer angelegten Mietsubventionierung von 28.000 Sozialwohnungen, auszusteigen. Und dies - entgegen warnender Stimmen - ohne jeden Kompromiss. Wirksame Vorkehrungen zum Schutz der betroffenen Mieterinnen und Mieter wurden hierbei nicht getroffen. Obwohl für die Wohnungen gegenwärtig keine Fördermittel mehr gezahlt werden, bleibt der Status „öffentlich gefördert“ für weitere Jahrzehnte erhalten. Dies ist in der Förderrichtlinie festgelegt, die zum Zeitpunkt der Bewilligung der Mietsubventionierung galt. Die Höhe der Miete richtet sich daher weiterhin nach dem für Sozialwohnungen geltenden Kostenmietensystem und nicht nach den im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerten Vorschriften über die ortsübliche Vergleichsmiete.

Mittlerweile zählen die vom Wegfall der Anschlussförderung betroffenen Sozialwohnungen zu den teuersten Mietwohnungen Berlins. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die entfallenen Mietsubventionen nun durch die Mieterinnen und Mieter ausgeglichen werden sollen. Das kann für die Betroffenen bedeuten, dass sich die bisherige Miete in einem Schlag verdoppelt oder verdreifacht - und dies sogar rückwirkend für bis zu 27 Monate. Auf diese Weise ergeben sich dann Mietnachforderungen in fünfstelliger Höhe.

Ohne das Zustandekommen der absurd hohen Kostenmieten im Sozialen Wohnungsbau Berlins zu hinterfragen, wurde das Problem also auf die Mieterinnen und Mieter abgewälzt.

Nur in Berlin unbezahlbar - Die Kostenmiete.

Das Kostenmietensystem dient dem Schutz der in den Sozialwohnungen lebenden Mieterinnen und Mieter. Sofern die Länder - wie auch Berlin - keine eigenen Vorschriften erlassen haben, richtet sich die Höhe der Miete nach dem „Gesetz zur Sicherung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen“, das auch unter der Bezeichnung „Wohnungsbindungsgesetz (WoBindG)“ bekannt ist. Hier ist in § 8 vorgeschrieben, dass die Miete von Sozialwohnungen nicht höher sein darf „als zur Deckung der laufenden Aufwendungen erforderlich ist (Kostenmiete).“ Da die Miete also auf die zur Bewirtschaftung der Sozialwohnungen erforderlichen Kosten beschränkt ist, schützt die Kostenmiete die Sozialmieterinnen und Sozialmieter vor Überforderung. Das trifft für die gesamte Bundesrepublik zu - mit Ausnahme von Berlin.

Im Gegensatz zu allen anderen Bundesländern übersteigen die Kostenmieten in Berlin die Mieten für freifinanzierte Wohnungen deutlich - und dies trotz derselben Gesetzeslage. Da sich die Kostenmiete hier nicht selten auf das Doppelte bis Dreifache der gegenwärtigen ortsüblichen Vergleichsmiete beläuft, scheint das Kostenmietensystem in Berlin geradezu ein Fluch der Mieterschaft zu sein.

Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot - Die „aufgeblähten“ Kosten.

Das liegt nicht am Kostenmietensystem als solchem, sondern an den besonderen „Berliner Verhältnissen“, für die nicht selten die Bezeichnung „mafiös“ gebraucht wird. So wurden die Kosten für die Sozialwohnungen in der Bauphase unter Verstoß gegen das gesetzlich verankerte Wirtschaftlichkeitsgebot bewusst und geplant über das erforderliche Maß hinaus in die Höhe getrieben, weil auf diese Weise möglichst hohe Verlustzuweisungen für Steuersparmodelle realisiert wurden.1
1 Vgl. hierzu auch Audiodokumentation zu „Nichts läuft hier richtig - Konferenz zum Sozialen Wohnungsbau in Berlin“ vom 13. November 2012, Arbeitsgruppe I, Vortrag von Prof. Dr. Johannes Ludwig (ab 13:30).

Pervertierter Mieterschutz - Das Leben auf einer Mietbombe.

Da die Wohnungen ohne Anschlussförderung weiterhin dem Kostenmietensystem unterliegen, die Kostenmiete in Berlin aber so absurd hoch ist, verkehrt sich der Grundsatz des Mieterschutzes in sein genaues Gegenteil: Aus dem Schutzinstrument der Kostenmiete ist ein Instrument der Existenzbedrohung von Mieterinnen und Mietern geworden. Auf diese Weise kann der Vermieter jederzeit einzelne oder alle Mieter mittels vorgeschobener Mieterhöhung loswerden.

Sofern die Miete noch nicht in absurde Höhen geschnellt ist, bleibt ein jahrelanges Leben auf einer tickenden „Mietbombe“ und in Sorge. Jederzeit kann eine horrende, unbezahlbare oder doch zumindest in keinem angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnis stehende, vielleicht sogar rückwirkend ausgesprochene Mieterhöhung eintreffen, die das Ende der eigenen Wohnung bedeutet. Jedes an den Vermieter gerichtete Anliegen kann eine willkürliche Mieterhöhung zur Folge haben. Somit sind faktisch sämtliche Mieterschutzrechte außer Kraft gesetzt - ein deutschlandweit beispielloser Vorgang.

Lastenfreie Übernahme zum Schnäppchenpreis - Das „Renditeparadies“ für neue Eigentümer.

Die vom Wegfall der Anschlussförderung betroffenen Eigentümer klagten gegen den Fördermittelstopp und verloren. Im Jahr 2006 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass kein Anspruch auf Fortsetzung der Förderung besteht.

Mit Ausbleibenden der Subventionszahlungen verringerten sich die Mieteinnahmen, so dass die Eigentümer in vielen Fällen ihre Hypothekenkredite nicht mehr bedienen konnten. Infolgedessen wechselten die in finanzielle Schieflage geratenen Sozialwohnungen häufig den Eigentümer - sei es im Wege des freihändigen Verkaufs, der Zwangsversteigerung oder eines anderen Notverkaufs.

Neue Eigentümer mit Kenntnis der speziellen Zusammenhänge nutzen nun das Kostenmietensystem, um Renditen zu erwirtschaften, die es im frei finanzierten Wohnungsbau so nicht gibt.

Das Geschäftsmodell: Sozialwohnungen ohne Anschlussförderung wurden zu Schnäppchenpreisen gekauft (Beispiel Fanny-Hensel-Kiez: lastenfreier Erwerb der Wohnanlage für 3,162 Mio. €). Gegenüber den Mieterinnen und Mietern werden jedoch weiterhin die ursprünglichen Kosten für den Bau der Wohnungen in Anrechnung gebracht (hier: Verzinsung von 8,588 Mio. €). Hierdurch soll eine Eigenkapitalrendite erwirtschaftet werden, die um ein Vielfaches höher ist als die des Voreigentümers (hier: 31,5 % p.a. für den neuen Eigentümer vs. 4,5 % p.a. für den vormaligen Eigentümer. Das entspricht einer Renditesteigerung um das Siebenfache, vgl. hierzu die Grafik weiter unten).

Private Verzinsung von öffentlichen Mitteln - Die „fiktiven“ Kosten.

Berlin wird regelmäßig aus Bürgschaften für Hypothekenkredite in Anspruch genommen, die das Land in der Bauphase der Sozialwohnungen ohne Anschlussförderung einging. Bislang wurden aus dem Landeshaushalt 387,3 Mio. € an die Hypothekenbanken gezahlt2
2 Stand: 31.12.2012, vgl. Jahresbericht des Senats vom 31.07.2013 über die Umsetzung und Folgen der Einstellung der Anschlussförderung im öffentlich geförderten Wohnungsbau (Jahresbericht 2012), Drs. 17/1098, Seite 19.
. Diese Mittel sind für Berlin uneinbringlich verloren. Niemand rechnet damit, dass jemals auch nur ein Cent zurückgezahlt wird.

Obwohl Hypothekenkredite der bisherigen Eigentümer also auch mit Steuermitteln zurückgezahlt wurden bzw. werden, findet dies bei der Berechnung der Kostenmieten keine Berücksichtigung. Gegenüber den Mieterinnen und Mietern weisen die neuen Eigentümer die gelöschten Kredite weiterhin als offene Rechnungsposten aus. Auf diese Weise lassen sich die neuen Eigentümer von den Sozialmieterinnen und Sozialmietern öffentliche Mittel in Höhe von 387,3 Mio. € verzinsen.

Mehrausgaben für den Landeshaushalt - Die Folge von tatsächlich nicht entstehenden Kosten.

Die Abrechnung „fiktiver“ Kosten ist nicht auf die vom Wegfall der Anschlussförderung betroffenen Sozialwohnungen beschränkt. Beispielsweise wird auch für die im Bonjour-Tristesse-Haus am Schlesischen Tor gelegenen Sozialwohnungen mit Anschlussförderung die Kostenmiete auf der Basis von zum Teil tatsächlich nicht entstehenden Kosten berechnet: Obwohl die Sozialwohnungen 2010 im Rahmen eines freihändigen Verkaufs lastenfrei für 2,735 Mio. € den Eigentümer wechselten, werden weiterhin die ursprünglichen Gestehungskosten in Höhe von 6,576 Mio. € in Anrechnung gebracht - und zwar sowohl gegenüber der Mieterschaft als auch gegenüber dem Land Berlin, das die fiktive Kostenmiete mit Steuermitteln heruntersubventioniert.

Im Interesse der Allgemeinheit lassen diese Beispiele nur einen Schluss zu: Die „Berliner Verhältnisse“ bedürfen dringend einer grundlegen Korrektur.

Beispiel für das Geschäftsmodell: Fanny-Hensel-Kiez. Es kommt zum freihändigen Verkauf und zum Eigentümerwechsel. Die Rendite auf das vom Eigentümer eingebrachte Eigenkapital steigt von 4,5 % p.a. auf 31,5 % p.a.

Eigentümer 2 erwirtschaftet gegenüber Eigentümer 1 einen sieben mal höheren Reingewinn. Delikat: Die Investitionsbank Berlin (IBB) hat Eigentümer 2 einen Ankaufkredit in Höhe von 2,1 Mio. € gewährt.